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Aber irgendwie

Aber irgendwie...

Frau Nitschewo lebte in einem zweistöckigen Hutzelhäuschen in unserer Nachbarschaft, kaum daß man sie auf der Straße sah. Das Dach hat in meiner Erinnerung grau gewordene Schindeln, über die die mächtigen Äste eines für uns Kinder uralten Baumes strichen.

Morgens trank sie Kaffee, um 4 Uhr mittags Tee, abends Rotwein. Jeweils eine Portion, um noch etwas von Leben zu spüren. Sie sah zum Fenster hinaus in den Garten,  - das riesige graue Hoftor war stets geschlossen und versperrte die Sicht - , sie sah in die Zeitung und manchmal hörte sie Radio. Ob sie je einen Fernseher besaß, weiß ich nicht.

Es gab so viel zu beobachten schon im Garten: der letzte Kohlweißling,den die Winzer noch nicht abgespritzt hatten, die Anselm im Kirschbaum auf unbeholfener Jagd nach ihm, die verschiedenen Katzen auf dem immer gleichen Pfad auf Pirsch nach Amseln; da kommt ein neues Blatt heraus im Frühsommer, da fällt ein erstes...
Eine gelbe Blüte steht prächtig auf dem Stängel. Darunter eine Blüte mit dickerem, dichteren Fruchtkegel, deren Blütenblätter müde herunter hängen. Sie braucht nicht Biene noch Kitzel der Hummel. Ihr Gefühl ist eher ein zunehmender, erfüllender aber auch leicht schmerzender Druck aus dem Inneren.

Frau Nitschewo denkt an Sterben, wie sie sich früher an Sternen ergötzte. Was wohl die ausgelutschte männliche Blume denkt? An die Zeiten der geschwollenen Drüsen oder an das Hinauswachsen in eine alles versprechende Zukunft? Auch Seufzen über Einsamkeit und Austrocknung ist nicht unpassend anzunehmen. Aber da ist doch noch der Wind des Herbstes, der Eure in fahlen Stängeln vertrockneten Weisheiten ächzen läßt. Der Vogel, der nicht mehr an Euren Wurzeln zwickt, der Wurm, der lieber frisches pickt...

Die weibliche Knospe aber spürt so etwas von nächstem Jahr in ihrer Sehnsucht. Die Spannung in ihrem Inneren wird sich bald lösen und in einem gewaltigen Schwung die harten Samen weit verstreuten.
Frau Nitschewo steht auf, um ihr Putzprogramm fortzusetzen. Heute ist das Schlafzimmer dran. Kaum vorstellbar wie sie die Arbeit in einer modernen Wohnung mit Bad bewältigen sollte. Heute abend liest sie das Märchen 'Einer' von Janosch. Jean Paul ist ihr momentan zu weitschweifig. Ein kurzer spitzer Schmerz macht sie auf ihr verholzendes Bein aufmerksam.

Ein Truck fährt aufheulend um die Kurve. Er schickt ein 'guten Abend' in die Vergangenheit.

Sie gehörte nie, wird nie gehören zu den wichtigen Personen. Und wie immer sie sich fühlte: zugehörig war sie auch nie. Aber zufrieden. Wie ich mich aus dem Desinteresse ins Vergessen schreibe, so leben unzählbar viele andere Mitbewohner dieses Intervalls von Ewigkeit. Sie war eine von ihnen.

Vor fünf Jahren verstarb sie, wie man so sagt: hochbetagt, in einem Altenheim weit ab. Weit ab. Aber irgendwie...

28.8.2008

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