Beneventano
Ich gehe mit Mel die Straßen Karlsruhes. Ein Schriftsteller der Freiheit und Brüderlichkeit, der sich aber auch mal einen Knüttel schnitzte, um seinen Gläubiger durchzuwalken, kurz: einer von der Hoffnung der Republik.
Am Haydnplatz machen wir Halt, von einem plötzlichen Sonnenstrahl freudig überrascht, den einer der seltsamen Bohnen-Bäume eingefangen hat. Erinnerung explodiert warm und hell in meinem Inneren. Das Lauterbachsche Coronagellen verstummt. Wie das Kind damals fühle ich das Wunder, leben, sehen zu dürfen. Und hören: Mitten im Winteranfang tschilpen die Spatzen, singen die Meisen, turteln die Tauben. Und tatsächlich ist der Frühling schon wie einen Monat zu früh in die Knospen gesprungen.
Von der nahe gelegenen Psychiatrie dringt das Schreien einer Frau herüber. Das Grauen. Melville fragt mich, ob ich denn immer noch glaube, die Verwirrten hätten es besser als vor hundert Jahren in den Heil- und Pflegeanstalten von Fürst und glotzender Wissenschaft. „Na ja!“, denke ich, als zu Deiner Zeit wohl schon. Laß uns über die Freude in der Welt nicht ihre schrecklichen Seiten und - die Menschen nicht vergessen.
Unter den wieder schweren dunklen Himmeln gehen wir weiter durch die Gärten. Unglaublich die Vielfalt in der Natur! Wie unwichtig mir das in meinen wichtigen Zeiten erschien! Melville zeigt auf die Segel hinterm Horizont, auf sein polynesisches Tattoo. Er muß hinaus. Ich schüttle den Kopf, bin nicht Adler noch Albatros oder Möve. Meine Freiheit und Freude finde ich am äußeren Rand der Spatzengesellschaft. Wir winken einander zu.
Und da beginnt ein Hahn aus Shanghai in die Aerosole zu krähen. Die Angst reißt auf. Und Erinnerung sagt Heilung.
Klaus Wachowski 14.12.2020
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