St. Omer, Ort in Frankreich
Einsamkeit, ein Film
Nacht, Vollmond, die Flut steigt. Eine Frau legt ihr Kind in den Sand und geht davon.
Der Film über den Prozess zu dieser Tat zeigt Einsamkeit und Verzweiflung.
In der Realität muss das Verbrechen zweifellos bestraft, die Frau entweder ins Gefängnis oder in die Psychiatrie verbracht werden. Das Opfer ist tot, an seiner Stelle kann niemand verzeihen. Angst und Einsamkeit ist die Hölle, in der das Kind ertrinkt. Eine kleine Tochter. Im Herzen der Mutter ließ eigenes Leid keinen oder nicht ausreichenden Raum für Barmherzigkeit.
Viele Reden, viele Klagen , Empörung. Eine tiefe Traurigkeit taucht den Film in Schweigen.
Die Oberfläche der Realität zeigt die Verlassenheit einer Afrikanischen Philosophin in der Bigotterie der Europäischen Selbst-Zelebrierung. Aufgewachsen als Einzelkind in Senegal. Ist es schon Vorurteil, da auf seelische Behinderung zu schließen, weil in unseren Köpfen afrikanische Familien von Liebe und Leben nur so strotzen, auch wenn sie hungern? Nach dem Film meldet sich ein solcher Verdacht schon in mir.
Der reiche und intellektuelle Vater, die soziologisch nicht näher beschriebene wohl sehr ehrgeizige Mutter. Sind das nicht auch häufige Typen im europäischen VIP? Und die berechnende Kaltherzigkeit, die dem Kind das Geld streicht, wenn es vom vernünftigen Jurastudium zur Philosophie wechselt? Er weiß doch nicht mal, daß sie sich nicht der Erkenntnis Schopenhauers, sondern den Spiegelfechtereien Wittgensteins widmet! Und selbst wenn: es ist Vater und da ist eine Mutter! Sie verstehen die Sehnsucht ihrer Tochter nicht. Sie "hatte es doch so gut"... Mal ehrlich: Wer von uns tut es?
Wo sind Freunde, Vertraute in der ignoranten Welt des Vergnügens an der sogenannten Hochkultur? 70% Beziehung, 30%Narzissmus, der Rest Spekulation auf Ruhm. Also auf Reichtum am falschen Ort.
Sie wollte Teil eben genau dieser Welt und der idealisierten Vorstellung davon sein. Es konnte nicht gelingen! Der Freund verleugnete sie vor Familie und Nachbarschaft, nahm sie nicht mit auf die Plattform seiner gesellschaftlichen Platzierung. Kein Sauerstoff für Gefühl und Gespräch. Toter Tag in der Fremde, verlorener Glaube an die Heimat: natürlich versteinert die Hoffnung, wird das Gefühl taub.
Ohne Mittel zur Beglaubigung einer Hoffnung auf Teil-sein, verdorrt der Glaube an Mensch und also Leben. Diese Verzweiflung schreit nicht, wer sollte es hören? Sie handelt, wie ein Mensch nicht handeln darf.
Der Philosoph Schopenhauer bringt den Grund der Schuld, also der Bestrafung auf den Punkt: was empört, ist das Abwälzen eigenen Leides auf eine andere Person. So geschieht es. Der Schwarm beruft ein Gericht zur Festsetzung gerechter Folge.
Ich nehme an, dass die verurteilte Täterin, von der Gesellschaft ausgeschlossen wie seither, künftig auch keinen Weg mehr zu sich, ihrem Kind und den Menschen finden kann. Vielleicht gibt es Glück und den Weg zur Trauer in einer gelingenden Therapie. Was sich in dem Film über den Prozess an Meinung und Urteil zeigt, gibt nicht unbedingt Hoffnung.
Ein Film, in dem die hochgeschätzte Ahnungs- und Fühllosigkeit einer kolonialen Nostalgie wie der des Houellebeq dreifach aufscheint: in der Ignoranz des Freundes und Kindsvaters, der schließlich auch das Kind nicht will, in der Plattheit einer Philosophieprofessorin, die glaubt, die europäische Philosophasterei sei in einer gewissen Weise etwas, das Afrika nicht verstehen könne, was den Triumph des Rassevorurteils auch in Frankreich zeigt, und schließlich in einem Staatsanwalt, der seine Machovorurteile gegenüber der Unabhängigkeit der Frau und der kulturellen Autonomie auch in Afrika zynisch in rücksichtslose Unterstellungen gießt. Allein Verteidigung und Richterin zeigen sich einfühlsam und vernünftigen Fragen, verzweifeltem Schweigen und der Trauer zugänglich.
Wer möchte sie nicht trösten können, wenn es das verzweifelt aber unbarmherzig getötete Kind erlaubte? Nicht die Tat, sie braucht Strafe, der Person: Mitleid und Trauer. Beiden.
KW 3 2023
P.S. Das mäandernde Thema "ehrgeizige Mutter", das auch die Prozessbeobachterin, Professorin und Schriftstellerin mit einer Mutter aus dem Senegal, umtreibt trifft nicht jede und nicht jede gleich. Sie zum Beispiel hat einen tragfähigen Freundes- und Familienkreis.
Bitte: Auch Verständnis für die Sorgen der "Rabenmütter". Solange Du nicht Tochter bist und wenn Du Person bist, nicht hohl tönende Schelle einer Spießergesellschaft, kannst Du es leicht erbringen.
Der einfühlsamen Regie und allen Mitwirkenden mein Beifall.
Klaus Wachowski 3 2023
Venedig hat den Film gelobt.
Nacht, Vollmond, die Flut steigt. Eine Frau legt ihr Kind in den Sand und geht davon.
Der Film über den Prozess zu dieser Tat zeigt Einsamkeit und Verzweiflung.
In der Realität muss das Verbrechen zweifellos bestraft, die Frau entweder ins Gefängnis oder in die Psychiatrie verbracht werden. Das Opfer ist tot, an seiner Stelle kann niemand verzeihen. Angst und Einsamkeit ist die Hölle, in der das Kind ertrinkt. Eine kleine Tochter. Im Herzen der Mutter ließ eigenes Leid keinen oder nicht ausreichenden Raum für Barmherzigkeit.
Viele Reden, viele Klagen , Empörung. Eine tiefe Traurigkeit taucht den Film in Schweigen.
Die Oberfläche der Realität zeigt die Verlassenheit einer Afrikanischen Philosophin in der Bigotterie der Europäischen Selbst-Zelebrierung. Aufgewachsen als Einzelkind in Senegal. Ist es schon Vorurteil, da auf seelische Behinderung zu schließen, weil in unseren Köpfen afrikanische Familien von Liebe und Leben nur so strotzen, auch wenn sie hungern? Nach dem Film meldet sich ein solcher Verdacht schon in mir.
Der reiche und intellektuelle Vater, die soziologisch nicht näher beschriebene wohl sehr ehrgeizige Mutter. Sind das nicht auch häufige Typen im europäischen VIP? Und die berechnende Kaltherzigkeit, die dem Kind das Geld streicht, wenn es vom vernünftigen Jurastudium zur Philosophie wechselt? Er weiß doch nicht mal, daß sie sich nicht der Erkenntnis Schopenhauers, sondern den Spiegelfechtereien Wittgensteins widmet! Und selbst wenn: es ist Vater und da ist eine Mutter! Sie verstehen die Sehnsucht ihrer Tochter nicht. Sie "hatte es doch so gut"... Mal ehrlich: Wer von uns tut es?
Wo sind Freunde, Vertraute in der ignoranten Welt des Vergnügens an der sogenannten Hochkultur? 70% Beziehung, 30%Narzissmus, der Rest Spekulation auf Ruhm. Also auf Reichtum am falschen Ort.
Sie wollte Teil eben genau dieser Welt und der idealisierten Vorstellung davon sein. Es konnte nicht gelingen! Der Freund verleugnete sie vor Familie und Nachbarschaft, nahm sie nicht mit auf die Plattform seiner gesellschaftlichen Platzierung. Kein Sauerstoff für Gefühl und Gespräch. Toter Tag in der Fremde, verlorener Glaube an die Heimat: natürlich versteinert die Hoffnung, wird das Gefühl taub.
Ohne Mittel zur Beglaubigung einer Hoffnung auf Teil-sein, verdorrt der Glaube an Mensch und also Leben. Diese Verzweiflung schreit nicht, wer sollte es hören? Sie handelt, wie ein Mensch nicht handeln darf.
Der Philosoph Schopenhauer bringt den Grund der Schuld, also der Bestrafung auf den Punkt: was empört, ist das Abwälzen eigenen Leides auf eine andere Person. So geschieht es. Der Schwarm beruft ein Gericht zur Festsetzung gerechter Folge.
Ich nehme an, dass die verurteilte Täterin, von der Gesellschaft ausgeschlossen wie seither, künftig auch keinen Weg mehr zu sich, ihrem Kind und den Menschen finden kann. Vielleicht gibt es Glück und den Weg zur Trauer in einer gelingenden Therapie. Was sich in dem Film über den Prozess an Meinung und Urteil zeigt, gibt nicht unbedingt Hoffnung.
Ein Film, in dem die hochgeschätzte Ahnungs- und Fühllosigkeit einer kolonialen Nostalgie wie der des Houellebeq dreifach aufscheint: in der Ignoranz des Freundes und Kindsvaters, der schließlich auch das Kind nicht will, in der Plattheit einer Philosophieprofessorin, die glaubt, die europäische Philosophasterei sei in einer gewissen Weise etwas, das Afrika nicht verstehen könne, was den Triumph des Rassevorurteils auch in Frankreich zeigt, und schließlich in einem Staatsanwalt, der seine Machovorurteile gegenüber der Unabhängigkeit der Frau und der kulturellen Autonomie auch in Afrika zynisch in rücksichtslose Unterstellungen gießt. Allein Verteidigung und Richterin zeigen sich einfühlsam und vernünftigen Fragen, verzweifeltem Schweigen und der Trauer zugänglich.
Wer möchte sie nicht trösten können, wenn es das verzweifelt aber unbarmherzig getötete Kind erlaubte? Nicht die Tat, sie braucht Strafe, der Person: Mitleid und Trauer. Beiden.
KW 3 2023
P.S. Das mäandernde Thema "ehrgeizige Mutter", das auch die Prozessbeobachterin, Professorin und Schriftstellerin mit einer Mutter aus dem Senegal, umtreibt trifft nicht jede und nicht jede gleich. Sie zum Beispiel hat einen tragfähigen Freundes- und Familienkreis.
Bitte: Auch Verständnis für die Sorgen der "Rabenmütter". Solange Du nicht Tochter bist und wenn Du Person bist, nicht hohl tönende Schelle einer Spießergesellschaft, kannst Du es leicht erbringen.
Der einfühlsamen Regie und allen Mitwirkenden mein Beifall.
Klaus Wachowski 3 2023
Venedig hat den Film gelobt.
Es grüßen in die Machtlosigkeit
Virginia Woolf,
Anne Sexton,
Silvia Plath
Virginia Woolf,
Anne Sexton,
Silvia Plath
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